Die zwei Seiten des Berges

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Der Meister kam früh morgens ganz unerwartet  zu seinem Schüler.

Der Schüler öffnete die Tür  und als er seinen Meister sah war er sehr überrascht:

„Meister!  Was für eine Überraschung. Bitte kommen Sie  rein! Sie haben bestimmt noch nicht gefrühstückt, nicht wahr? Ich freue mich, dass Sie mich besuchen.  Kommen Sie doch rein.“2_Seite_des_Berges

 

Meister: „Du hast recht. Ich habe noch nicht gefrühstückt und hätte gerne den leckeren Tee, den ich hier immer bekomme. Nachher werden wir gemeinsam eine kleine Reise unternehmen.“

Der Schüler war erstaunt: „Eine Reise? Jetzt? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, wenn Sie mir vorher Bescheid gesagt hätten? Ich muss mich vorbereiten.“

Der Meister erwiderte: „Du hast recht. Sich vorbereiten  kann man immer. Es ist immer besser,  wenn man sich auf unvorhersehbare Dinge vorbereiten kann. Dadurch lernt man, was die Vorbereitung bedeutet. Bitte mache den Tee fertig, wir wollen bald los. Ist dein Auto in Ordnung?“

Der Schüler entschuldigte sich und sagte: „Ja Meister, mein Wagen ist fahrbereit. Bitte setzen Sie sich. Ich bereite das Frühstück zu.“

Meister:  „Ein Tee reicht mir.“

Sein Schüler ging in die Küche, deckte dort den Frühstückstisch und ging dann schnell zum Supermarkt in der Nähe um dort frisches Brot sowie Käse zu kaufen. Der Meister las in einem Buch und merkte nicht, dass der Schüler kurz weg war.

Schüler:  „Bitte Meister, kommen Sie zum Frühstück in die Küche.“

Meister:  „Ja, ich  komme.“

Er zeigte dem Schüler ein Buch: „Dieses Buch wurde von einem meiner anderen Schüler geschrieben. Der Titel heißt:  Geheimnis des Glückes. Er wollte meine Meinung darüber wissen.“

Schüler:  „Schön, aber bitte frühstücken Sie erst mal! Hier ist der Tee, den Sie so gerne mögen.“

Meister: „Der Tee duftet wirklich sehr aromatisch. Du hast den Tisch geschmackvoll gedeckt.“

Er nahm von allem, was auf dem Tisch lag, ein kleines Stück und lobte  dabei jede Sorte.

„Wir sollten los“, sagte der Meister.

Schüler: „Ich muss nur noch meinen Kollegen Bescheid sagen, dass ich heute nicht zur Arbeit komme. Einen Moment bitte.“

 Dann rief er seinen Chefarzt an.

 „Hallo, ich kann heute nicht kommen. Die Operation muss morgen stattfinden.“

Sein Chef gab zu bedenken: „Aber wir haben dem Patienten doch gesagt, daß er heute operiert wird.“

Schüler: „Ja, aber das ist nicht schlimm. Er hat schon lange darauf gewartet und ein Tag später ist kein Problem. Ich habe Ihnen so früh Bescheid gesagt, damit  keine Vorbereitungen  getroffen werden. Ich komme morgen wieder.“

Chef: „Dann bis morgen.“

Meister: „ Ist es wirklich kein Problem, wenn dein Patient erst morgen operiert wird?“

Schüler:  „Ja Meister, das ist überhaupt kein Problem. Wohin wollen wir fahren?“

Meister:  „Ich fahre. Wir werden gemeinsam einen Ort besuchen.“

Schüler: „Nur einen Ort?“

Meister: „Genau,  nur ein einziger Ort.“

Schüler:  „Dann gehen wir.“

Meister:  „Ja, wir gehen jetzt.“

Sie gingen raus zum Wagen. Der Meister fuhr. Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort und Schweigen herrschte im Auto. Dann sprach der Meister:

„Du warst mir immer ein guter Schüler. Ich habe viele gute Schüler. Aber was nützt  es?

Du bist gut, er ist gut. Es ist nichts schlechtes, wenn ein Mensch als guter Mensch bezeichnet wird. Aber das reicht nicht, es ist eine Selbsttäuschung.  Der  Sinn des Menschen ist gut. Wir Menschen leben gemeinsam. Das ist Zivilisation.

Wenn ein Mensch nicht versucht, Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen um sie zu verbessern, dann ist der Mensch verloren. Egal ob er als guter Mensch bezeichnet wird oder nicht. Der gute Mensch als einzelner ist gar nicht so gut und nützlich.  Da wäre es besser, wenn alle guten Menschen schlechte Menschen sind. Dann würde man sich wenigstens nicht täuschen. Du bist auch kein nützliches Wesen… wie auch andere meiner guten Schüler.“

Es war ein großer Schock für den Schüler. Niemals zuvor hatte er solche Worte über sich aus dem Mund des Meisters gehört. Er konnte nicht antworten. Unterdessen fuhr der Wagen weiter.

Kurz darauf lenkte der Meister den Wagen auf einen schmalen Weg.

Sie  erreichten plötzlich eine wunderschöne  Ebene. Alles war grün mit vielen Blumen.

Von dem sich dort befindenden Berg floss Wasser von einem Wasserfall in die Ebene. Es gab viele  Schmetterlinge, die durch die Blumen flatterten. Der Wind war so angenehm und erfrischend, daß der Schüler ausstieg  und sich ins Gras legte. Sowas schönes hatte der Schüler noch nie in seinem Leben gesehen und bedankte sich dafür beim Meister.

Dieser schwieg und stieg auch nicht aus dem Wagen aus. Er ließ seinem Schüler Zeit um alles genießen zu können. Der Schüler war außer sich, lief durch die grüne  Ebene und spielte mit den Schmetterlingen wie ein kleines Kind. Der Meister schaute nur zu.

Nach einer Weile rief der Meister seinen Schüler: „Wir wollen zu einem anderen Ort gehen.“

Der Schüler erwiderte: „Aber lieber Meister, Sie haben doch gesagt, dass wir nur einen Ort besuchen werden.“

Meister: „Ja, das ist auch nur ein Ort – aber mit zwei Gesichtern.“

„ Mit zwei Gesichtern! Was meinen Sie damit?“

Meister:  „Komm! Ich zeige es dir.“

Nachdem der Schüler wieder eingestiegen war, holte der Meister  Essen und Getränke aus seiner Tasche raus.

„Wir sollten etwas essen bevor wir weiter fahren.“

Schüler: „Sie haben an alles gedacht. Danke, ich hätte mir nie vorstellen können, dass Sie mich zu einem so schönen Ort bringen würden.“

 Der Meister lachte nur.

Er  fragte dann den Schüler: „Warum ist diese Ebene so schön und grün?“

Der Schüler antwortete: „Wegen des Wassers, sonst würde hier eine Wüste sein.“

„ Ja richtig, wegen des Wassers.“

Nach dem Essen ging es weiter. Das Auto fuhr um den Berg herum. Die Vegetation änderte sich. Es wurde immer heißer und trockener. Bald war es so heiß, dass die Klimaanlage im Auto nicht mehr funktionierte. Es war eine mörderische Wüste. Keine grüne Wiese und kein Wasser mehr.

Der Schüler bekam große Angst und  fragte sich, was der Meister denn vor habe.

Schüler: „Lieber Meister, können wir diesen schrecklichen Ort nicht verlassen? Gehen wir zur grünen Ebene zurück. Dort war es viel angenehmer als hier. Ich schwitze stark und habe bald kein Wasser mehr im Körper. Bitte Meister, bitte.“

Meister: „Nein, wir steigen aus und gehen den Berg hoch!“

„Was? Hochgehen? Das ist nicht möglich. Wir werden sterben. Bitte Meister, Sie sind auch nass geschwitzt. Warum machen Sie das?“

Meister:  „Ein Berg mit zwei Seiten. Das Paradies und die Hölle.“

„Warum? Warum? Ich werde sterbe bald.“

Meister: „Die Antwort werden wir oben auf dem Gipfel des Berges sehen.“

Auf dem Gipfel? Wir gehen auf dem Gipfel? Die Antwort gibt man,  aber man sieht sie nicht.“

Meister: „Diese Antwort sollen wir aber sehen. Eine Antwort, die man nicht sehen kann, ist keine richtige Antwort. Das kommt darauf an mit welchen Augen man sieht. Kannst du mir sagen, warum viele Antworten auf die Frage nicht wirken, nichts ändern und nicht sinnvoll sind?“

Schüler: „Vielleicht ist entweder die Frage falsch oder die Antwort.“

Meister: „Die Antwort, die man sehen kann, kann nie falsch sein. Deshalb wollen wir die Antwort oben auf dem Gipfel sehen. Komm, sei kein Feigling.“

„Okay, Meister. Wenn Sie mich auffordern, dann mache ich das. Wir werden gehen, auch wenn es mein Leben kosten soll. Können wir nicht von anderen, von der grünen Seite  hochgehen?“

Meister:  „Leider nein. Wir müssen verstehen, was die Antwort uns gekostet hat. Wir steigen von dieser Seite hoch.“

Schüler: „Lieber Meister, Sie sind viel älter als ich. Ist es nicht besser wenn ich alleine gehe und Ihnen danach erzähle  was da oben war?  Natürlich nur, wenn ich überhaupt am Leben bleibe. So wie diese Gegend aussieht  habe ich keine Chance.

Sehen Sie,  da schimmern überall Knochen von Tieren oder Menschen im Sonnenlicht.“

Meister: „Nein, danke. Wenn ich geglaubt hätte, daß du alleine hier hoch steigen kannst,  dann wären wir beide jetzt überhaupt nicht hier. Nimm diesen Wasserbehälter. Wir steigen hoch.“

Der Schüler nahm den Behälter  und trank sofort die Hälfte leer.

Der Meister schrie: „Nein warte, das ist ein großer Fehler. Man muss langsam trinken.“

Sie begannen damit den Berg zu besteigen. Der Weg war beschwerlich und es war brütend heiß. Beide hatten große Mühe mit dem Aufstieg.

Der Wasserbehälter des Schülers war schnell leer und er trank noch die Hälfte des Wassers vom Meister mit. Obwohl der Meister viel älter war, hatte er weniger Probleme als sein Schüler und sprach diesem sogar noch Mut zu.

Endlich erreichten sie den Gipfel. Dort gab es einen großen Bergsee mit kaltem Wasser. Alles war grün und es wehte ein kühler, erfrischender  Wind.

Der Schüler sprang ins Wasser, trank und trank.

Sein Meister hielt nur den Kopf unter Wasser und trank dabei ein wenig.

Nach dem der Schüler sich erholt hatte, fragte der Meister:

„Was siehst du?“

Der  Schüler antwortete: „Der Berg hat zwei Seiten. Eine Seite grün und schön, die andere Seite trocknen und hässlich.“

Der Meister fragte weiter: „Warum?“

„Eine Seite hat Wasser und die andere nicht.“

Meister: „Schau, dieser Bergsee hat auf beiden Seiten die gleiche Anzahl an Bächen. Warum hat die eine Seite das Wasser und die andere Seite keines?“

Schüler: „Die Bäche zur grünen Seite fließen zunächst einzeln und schließen sich dann zusammen. Die Hitze kann sie deshalb nicht viel beeinflussen und so erblüht unten die Ebene.

Auf der Wüstenseite fließen die Bäche allein und schließen sich nicht zusammen. Die Hitze lässt das Wasser versickern.“

Meister: „Das ist die Antwort. Man soll sich den anderen anschließen, wenn man in die grüne Ebene will. Alleine ist man immer in der Wüste.“

 

 

M. Moshiri

14.07.2010